4.11 Übertragungen am Beispiel eines Streites

Wer schon lange in einer Partnerschaft lebt und seine Streitigkeiten mit dem Partner einmal in Ruhe analysiert, der stellt vielleicht fest, dass immer wieder gleichartige Formen anzutreffen sind. Nicht selten gibt es auch Konflikte, die bei objektiver Betrachtung aus den verschiedensten Gründen gar nicht lösbar sind, wie zum Beispiel wer in der Vergangenheit was gesagt oder nicht gesagt haben soll. Es gibt für den strittigen Punkt keine Aufzeichnungen oder Zeugen,  jeder Partner kann alles behaupten, keiner kann es dem anderen beweisen, aber beide streiten bis zur Erschöpfung. - Warum eigentlich?

An diesem Beispiel soll deutlich werden, dass es in einem Streit nicht nur um einen (austauschbaren) Sachverhalt geht, sondern dass hinter jedem Streit eine drohende oder erfolgte Verletzung von Bedürfnissen steht. Streit ist stets ein Kampf um Bedürfniserfüllung. Wer einen Streit beilegen will, braucht sich demnach gar nicht so sehr (aber natürlich auch) mit dem Streitgegenstand zu beschäftigen, besonders wenn er in einen reinen Schlagabtausch ausartete, viel wichtiger ist gerade dann die Frage nach einer wirksamen Erfüllung der verletzten oder bedrohten Bedürfnisse! Diese sind jedoch zuerst überhaupt einmal zu erkennen und hier beginnen die Schwierigkeiten:

Wir selber können bei ruhiger Betrachtung (also im Erregungszustand eines Streites nicht oder nur unzureichend) die eigenen Bedürfnisse recht gut benennen, weil wir unsere Gefühle und ergänzend dazu unsere Geschichte kennen. Wer die Neurosophie kennt, weiss sie daneben auch exakt den 5 plus 2 Grundbedürfnissen zuzuordnen und kann so im scheinbar ungeordnet Komplizierten das geordnet Einfache begreifen. Die Geschichte des Partners kennen wir nur in Bruchstücken. Dennoch ist uns eine gleichartige Zuordnung ebenfalls möglich, wenn wir dem Partner genau zuhören, auf sein Verhalten, auf Hinweise zu seine Bedürfnisse verratende Formulierungen achten. Zusammen mit der Stärke des dabei geäußerten Gefühls können wir dann die im Partner wirkende Stärke des gerade gefundenen Bedürfnisses analysieren. Vergleichen wir diesen Streit mit einem gleichartigen in anderen Partnerpaarungen, stellen wir fest, dass es recht große Unterschiede in der Intensität der Ausfechtung der Streitigkeiten über ein und dasselbe Thema bei verschiedenen Paaren gibt. Bleiben wir bei obigem unlösbaren Konflikt, kann ein Paar recht schnell die Unlösbarkeit erkennen und daraufhin ohne große Aufregung die Aufmerksamkeit wichtigeren Fragen zuwenden, während ein anderes Paar als Ersatz für - gar nicht beizubringende - Argumente eine Schlägerei beginnt. Zwischen diesen beiden Extremen sucht sich jedes Paar "seine" geeignete Intensität des Streites je nach der Stärke der früher verletzten Bedürfnisse - auf beiden Seiten.

Stellt sich bei einem Paar die häufige Wiederholung eines unlösbaren oder eines wie auch immer gleichartig gestalteten Konfliktes heraus, ist an seinem Beispiel meistens besonders deutlich ein weiterer wichtiger Einfluss zu analysieren, nämlich die Übertragung. Damit ist ein unbewusstes Rollenspiel zwischen den Partnern gemeint, welches oft den Rollen verblüffend genau gleicht, die beide Partner jeder für sich zum Beispiel mit seinen Eltern erlebte. (Vergleiche "Liebe und Partnerschaft aus neurosophischer Sicht", Kapitel 4, "Warum wir immer wieder den gleichen Typ Partner suchen".) Danach streitet der betreffende Mensch heute mit einem ganz anderen Partner, trägt aber bei benauer Betrachtung den ungelösten Konflikt zum Beispiel mit einem Elternteil immer wieder und auch heute erneut aus, um - unbewusst - endlich die seinerzeit verwehrte Bedürfniserfüllung zu erreichen. Dieser Streit findet also für das Unterbewusstsein gar nicht mit dem heutigen Partner sondern mit dem früheren (Elternteil) statt. Solche Übertragungen sind demnach Stellvertreter-Konflikte, der Partner verkörpert das frühere Verhalten meistens der Mutter oder des Vaters und bekommt demnach alle Aggressionen ab, die eigentlich für die ursprüngliche Konfliktperson bestimmt sind. Er selber zeigt aber ebenfalls ein dazu passendes Verhalten, welches mit recht großer Sicherheit ebenfalls auf eine bestimmte Rolle in früherem Erleben zurückgeführt werden kann. Dieses geschieht unbewusst und ist unter anderem damit zu erklären, dass wir alle sehr häufig durch Nachahmung lernen. (Wer beispielsweise kleine Kinder im Sandkasten beobachtet, wird recht bald feststellen, dass diese immer wieder Redewendungen benutzen, die eindeutig einem bestimmten Elternteil zugeordnet werden können. Diese Form des Lernens, aber auch andere, behalten wir ein Leben lang bei.) Betroffene werden überwiegend solch eine überraschend vorgetragene Feststellung im ersten Moment zuerst einmal rundweg abstreiten. Wenn sie dann aber in Ruhe nachdenken, werden sie weitere Entwicklungsschritte vollziehen. -

Schaut man sich - wenn die Übertragungen auf Elternteile oder je nach Schicksal auf vergleichbare Bezugspersonen zurückzuführen sind, nicht auf Vorgesetzte, Spielkameraden usw. - einmal die Machtverteilung in beiden Elternhäusern an, ergeben sich sehr oft verblüffende Übereinstimmungen mit der neuen eigenen Partnerschaft. Dabei ist es nicht zwingend, dass die Rollen jeweils vom gleichen Geschlecht eingenommen werden. Das meint, dass in der aktuellen Partnerschaft durchaus eine Frau im Verhalten die Rolle des eigenen Vaters oder ein Mann die Rolle der eigenen Mutter übernehmen kann, aber nicht unbedingt muss. Es gibt auch die Möglichkeit, dass von ein und derselben Person in bestimmten Situationen die Mutter nachgeahmt wird, in anderen der Vater. Wer in einer Familie aufwuchs, in der Großeltern oder andere Verwandte eng einbezogen waren, kann auch deren Verhalten einmal mit dem eigenen vergleichen. Auch kann ein in der Kindheit gezeigtes besonderes eigenes Verhalten gegenüber den Eltern in bestimmten Konfliktsituationen bis heute beibehalten werden. Aber stets zeigt der eigene Partner in diesen Stellvertreter-Konflikten das dazu jeweils "passende" Verhalten, weil auch er unbewusst seinen Stellvertreter-Konflikt austrägt. - Doch es geht letztlich nur um die Erfüllung von Bedürfnissen! Erkennen Sie sie, zum Beispiel im Rahmen einer Neurosophische Selbstanalyse und erfüllen Sie sie doch nur einfach zur gegenseitigen Freude ganz bewusst und gezielt! Dann hat das Unterbewußtsein keine Veranlassung mehr, sie über unnötige Konflikte einzufordern! Was man gelernt hat, kann man auch wieder verlernen und durch besseres ersetzen. Erkennen Sie das eigene Rollenverhalten und suchen Sie sich eine bessere Rolle, nämlich in Selbstbestimmung und Ebenbürtigkeit zur gegenseitigen Lebensentfaltung, statt in gegenseitigen Unterdrückungsversuchen!

Es sei der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass nicht jeder Streit gleich auf Übertragungen zurückzuführen ist. Nur ist bei häufig wiederkehrenden und dabei gleichartigen Konflikten die Wahrscheinlichkeit besonders groß, bei anderen erst einmal nicht grundsätzlich auszuschliessen.

Autor: Klaus Michael

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