4.14 Leide unter ständiger Angst

In einem AOL-Pinboard stand folgender Gedankenaustausch zu oben genanntem Thema, dem ich aus meiner Sicht kaum etwas hinzufügen möchte und deshalb unverändert und mit ausdrücklicher Erlaubnis des Antwortenden hier wiedergeben möchte:

Zum Thema >Leide unter ständiger Angst< erhielt ich folgende Mail von jemandem, dessen Namen ich selbstverständlich im Hinblick auf den Persönlichkeitsschutz nicht nenne. Weil hier aber ein sehr oft anzutreffendes Problemfeld angesprochen wird, ohne daß es zweifelsfrei auf nur eine bestimmte Person zu beziehen ist, meine ich, daß es auch anderen Betroffenen die eine oder andere Anregung geben könnte und habe mich deshalb entschlossen, Mail und Antwort-Mail hier wiederzugeben. Letztgenannte wurde zur Darstellung hier geringfügig geändert und ergänzt.

Hey ..., habe deine Antworten in der Rubrik gelesen und kann dich nur bestätigen, aber wenn man selbst nicht weiterweiß und meint keiner versteht einen wenn man das Thema darauf bringt, dann meint man 'die halten einen für verrückt' und das Gesicht der Anderen ist dann so 'jetzt spinnt sie, wird sich schon wieder beruhigen. Ich habe auch ständig Angst etwas falsch zu machen und es allen nicht richtig machen zu können, aber schon von je her. Das rührt aus meiner Kindheit und mein Vater war derjenige der mir immer gesagt hat - das ist richtig und du weißt das sowieso nicht- ich will ja nur das Beste für dich.

Hallo ... ,

Du hast völlig recht: Wer unter solchen Symptomen wie Du nicht leiden muss, der versteht Dich tatsächlich nicht, so lange er sich nicht früher im Zusammenhang mit einer anderen Person damit beschäftigte oder durch Dich dazu angeregt wird, sich auch einmal mit psychologischen Problemen zu beschäftigen. Dann aber gehört als Angehöriger oder Freund/Bekannte(r) die Fähigkeit zu mitfühlender menschlicher Wärme dazu, sich wirklich mit Dir auseinander zu setzen, oder/und Du nimmst professionelle Hilfe in Anspruch, gehst also in eine (ambulante?) Therapie. Die letztgenannte Lösung ist ganz besonders angebracht, wenn wie bei Dir festzustellen ist, daß Dich Deine Umwelt nicht verstehen kann. Die Profis verstehen Dich und können dir daneben bewährte Hilfestellungen geben, um diese Ängste abzubauen.

Wir beide wissen, daß Du nicht verrückt im Sinne von blödsinnig bist. Aber das Wort verdient hier eine nähere Betrachtung: Wer unter übersteigerter Angst leidet, dessen Sichtweise zum Angstgegenstand ist meistens im Vergleich zu den meisten anderen Menschen tatsächlich ver-rückt. Damit ist gemeint: Dieser Mensch schaut aus einem anderen Blickwinkel auf dasselbe. So sieht und bewertet er auch anders. Zur Verdeutlichung mal ein übertriebenes Bild, aber Dramatik merkt sich leichter:

Du kennst die Pappwände, mit irgend einem tollen Bild, z. B. einem stolzen Torrero und einer Flamenco-Tänzerin. Man braucht nur die eigenen Gesichter in die in der Wand ausgeschnittenen Ovale zu halten und kann sich nun als angeblich traumhaftes Paar fotografieren lassen. Alle Umstehenden amüsieren sich über den harmlosen Spaß, weil sie von vorne auf die Wand blicken. Wenn Du aber in diesem Beispiel seitlich stehen und bemerken würdest, daß der Mann hinter der Wand ungesehen seinen Revolver auf die verhaßte Schwiegermutter richtet, dann ist doch Dein Angstgefühl zu verstehen, nicht wahr?

Oder: Wer noch nie einen Waldbrand mitgemacht hat, wird sich über das Entzünden einiger Grashalme auf einer Lichtung im Sommer anfangs nur wenig aufregen. Wer aber in einem Waldbrand einmal die Hitzestrahlung schon schmerzhaft auf der Haut spürte, der wird sofort mit großer Angst reagieren.

Das erste Beispiel zeigt den physikalisch unterschiedlichen Blickwinkel, das zweite soll den auf Erfahrung basierenden und damit im übertragenen Sinne verschiedenen Blickwinkel verdeutlichen. Nach Deinen wenigen Worten scheint das 2. Beispiel Deiner Situation gerecht zu werden.

Willst Du hinter die Ursachen Deiner Dir logisch unerklärbaren Angst kommen, so möchte ich Dich anregen, einmal über Deine eigenen Worte nachzudenken:

>Ich habe auch ständig Angst etwas falsch zu machen und es allen nicht richtig machen zu können, aber schon von je her. Das rührt aus meiner Kindheit und mein Vater war derjenige der mir immer gesagt hat - das ist richtig und du weißt das sowieso nicht- ich will ja nur das Beste für dich.<

Wenn Du mal in der Buchbesprechung der Website www.neurosophie.de nachsiehst, findest Du dort auch eine Tabelle der Grundbedürfnisse. Drucke sie Dir mal aus und dann schau mal nach, welche Bedürfnisse Dir in Deiner Kindheit durch den Vater nicht erfüllt wurden und welche Bedürfnisse Du Dir selber versagtest, nachdem Du Dich irgendwann einmal unbewußt entschieden hattest, die von Deinem Vater vorgenommenen Wertungen ungeprüft und demnach ohne Rücksicht auf Deine ureigenen Bedürfnisse als >richtig< zu übernehmen. (Beispiel: Wußtest Du es wirklich immer nicht???) Nach meinem naturgemäß geringem Wissen über Dich, scheinen mir aufgrund der paar oben zitierten Worte zumindest die Positionen von 2.2 bis 4. betroffen. Vollständig kannst das aber nur Du selber herausfinden (Auch in einer Therapie leistest DU die Arbeit, der Therapeut gibt genau besehen dabei >nur< Hilfestellungen; denn nur Du kennst Dein Leben vollständig.).

Mit den zitierten Worten schilderst Du, daß Du im Sinne der Neurosophie (!) noch nicht erwachsen bist. Das bewerte nun aber bitte nicht so, als wollte ich Dich persönlich herabwerten. - Nichts liegt mir ferner! - Deshalb sei erklärt, daß ich kaum einen Menschen kenne, der im Sinne der Neurosophie vollständig erwachsen ist. (All zu oft muß ich das in bestimmten Situationen auch bei mir selber feststellen, aber ich arbeite daran weiter.) Denn die Neurosophie definiert Erwachsensein als Lebensentfaltung per Selbstbestimmung in Ebenbürtigkeit (siehe Punkt 4. der Tabelle). Ich komme unten noch einmal auf diesen Begriff zu sprechen.

Dein Vater hat Dir die Selbstbestimmung, aber auch die Ebenbürtigkeit Deiner Persönlichkeit verwehrt, indem er Dir vorgab, was richtig und was falsch sei. Also hast nicht Du Dich aus eigener Überzeugung zu bestimmten Handeln zur Erfüllung Deiner ganz persönlichen Bedürfisse entschieden, sondern Du hast seine Überzeugung (zur Erfüllung seiner Bedürfnisse?) ausgeführt. Das ist fremdbestimmtes Handeln, wie es für Kinder in unserer Gesellschaft leider typisch ist. Vermutlich hast auch Du die Drohungen gespürt, im anderen Falle nicht die (nicht nur) Dir so wichtigen Bedürfnisse wie Zuwendung, Verstandenwerden, Anerkennung und Sicherheit nicht zu erhalten, falls Du von den Vorgaben abweichen solltest. Diese Bewertungen hast Du anscheinend bis heute nicht abgelegt: Nur sind jetzt an die Stelle der Bezugsperson Vater andere Personen getreten, die Dir wichtig sind und gegenüber denen Du heute Angst hast, etwas falsch zu machen, wie Du schreibst. Und so siehst Du die Betreffenden als Dir überlegen, also Dir nicht ebenbürtig an, handelst Du weiterhin fremdbestimmt und vergewaltigst damit Dein ICH, das - wie bei allen anderen Menschen aus naturgegebenen Gründen auch - doch nur seine eigenen (!) Bedürfnisse erfüllt sehen möchte. In eine kurze Formel gebracht:

Dein ganzes Verhalten ist darauf ausgerichtet, anderen Menschen deren Bedürfnisse zu erfüllen, wobei Du die Erfüllung Deiner Bedürfnisse vernachlässigst. - - -

Funktioniert Dein Unterbewußtsein nicht wunderbar, indem es Dich über das Gefühl der Angst vor diesen Selbstverletzungen Deiner Bedürfnisse warnt?

Zum Abschluß dieser Analyse noch ein Tipp: Schau Dich einmal um, wie viele Menschen sich so verhalten, daß sie auf biegen und brechen anderen gefallen wollen, welche Verrenkungen und Selbstschädigungen sie inkauf nehmen, nur um in der vermuteten (!!! es ist also gar nicht sicher, daß sie auch so ist!) Meinung der Anderen zu steigen! Du aber bist besonders sensibel und nimmst die dahinter befindlichen Ängste wahr. Andere Menschen handeln nur unbewußt wie ein Roboter danach, spüren die dahinter wirkende Angst nur dann, wenn man sie einmal auffordert, doch mal tatsächlich ihren Gefühlen nachzuspüren. Du siehst, meine Aussage über das Erwachsensein stellt keine nur Dich angehende Feststellung und insbesondere keine Dich persönlich meinende Abwertung dar, sie betrifft uns nahezu alle. Ganz im Gegenteil besitzt Du im Vergleich zur bereits abgestumpften Masse der Menschen die Gabe, die eine Stärke darstellt, nämlich Deine Gefühle auch bewußt wahrzunehmen. So hast Du deutlich vergrößterte Chancen gegenüber all den vielen Menschen, die nur quasi blind reagieren und im Grunde gar nicht wissen, warum sie tun, was sie da tun:

Was kannst Du nun in Angriff nehmen? Würde ich dazu systematisch planend vorgehen wollen, würde ich folgende Zielformulierung wählen und sie danach systematisch in die Einzelpositionen der mir schon bewußten stetig wiederkehrenden Standardsituationen zur konkreten Lösungsentwicklung zerlegen:

>Ich ersetze meine alten und von mir als falsch erkannten Wertungen durch neue, bessere.<

Dazu noch eine Ergänzung: Frage Dich zukünftig in jeder Situation, in der Du Angst aufsteigen spürst:

>Welche Gefahr droht welchem meiner Bedürfnisse konkret und wie kann ich ihr begegnen?<

Die Betonung liegt auf konkret. Damit kannst Du durch Nachdenken Dir bewußt machen, daß die konkrete Gefahr - sie kündigt eine drohende Verletzung an - tatsächlich in den meisten Fällen nur verschwindend gering ist. Und indem Du nicht mehr nur nach fadenscheinigen sachlichen Begründungen für Deine Angst suchst (der/die wird dann ...), sondern Dir sofort die eigentliche Ursache bewußt machst, daß es nämlich um DEINE Bedürfniserfüllung geht, kannst Du Dich z. B. fragen, ob Du auf die Erfüllung dieses Bedürfnisses in dieser bestimmten Situation wirklich angewiesen bist. - Bist Du es tatsächlich? Kannst Du ohne jeden Zweifel ausgerechnet in diesem Augenblick nicht darauf verzichten, oder kannst Du sie Dir nicht nur später, sondern auch an anderer Stelle, durch andere Personen befriedigen und zwar so, daß es DIR optimal gefällt? -

Was konkret passiert DIR denn, wenn das BEDÜRFNIS jetzt nicht erfüllt wird? - Hier besteht ein ein gewaltiger Unterschied zu der Frage: Was konkret kann Dir denn passieren, wenn Du nicht das tust, von dem DU meinst, daß es die andere Person von Dir erwarte. (Meint es denn die andere Person wirklich so, woher bist Du Dir da so sicher, ist es nicht letztlich nur Deine Wertung??? Warum droht die andere Person denn - wenn überhaupt - tatsächlich? Doch nur, um die eigenen Bedürnisse zu befriedigen und das in unserer Kultur viel zu oft auf Deine Kosten!)

Wenn tatsächlich eine konkrete Gefahr für Dich zu erkennen ist, wird Dein Angstpegel, die von Dir gespürte Stärke der Angst, bereits in dem Augenblick für Dich deutlich spürbar absinken, in dem Du beginnst, Dir Verhalten zur Meisterung der Gefahr auszudenken. Denn Du bist sehr viel stärker, als man Dir (meistens aus Eigeninteresse auf Deine Kosten) einreden wollte! Denke nur einmal darüber nach, wie viele Probleme Du in Deinem Leben schon mit Erfolg gemeistert hast, lege Dir eine Liste der Erfolge in Deinem Leben an, dann kannst Du mir sicher vorbehaltlos zustimmen. - Uns allen ist es in bestimmten Situationen daneben auch mal nicht im von uns gewünschten Umfang gelungen, die optimale Lösung zu finden, waren eben nicht so erfolgreich. - Na und?

Der Juckepunkt scheint mir bei Dir darin zu liegen, daß Du aufgrund Deines Werdeganges in der Kindheit darauf >dressiert< bist, die Wertungen anderer Menschen als richtig zu übernehmen und Deine eigenen Wertung zu ignorieren, ja oft gar nicht mehr SELBER zu werten. Also lass die anderen Menschen denken was sie wollen, sie verfolgen schließlich deren Bedürfniserfüllung, nicht Deine, auch nicht in Ebenbürtigkeit und nicht unter Berücksichtigung Deiner Selbstbestimmung; denn dann würden sie auch Deine Bedürfnisse erfüllen und nicht verletzen wollen.

Angst ist ein für das Überleben in der Natur und in der Gesellschaft ganz wichtiges Gefühl. In Deinem speziellen Fall warnt sie vermutlich besonders oft vor der Verletzung Deiner Lebensentfaltung, Deiner Selbstbestimmung und Deiner Ebenbürtigkeit.

Prüfe bitte, ob meine Analyse auf Dich wirklich zutrifft; denn nur Du kennst Dein Leben genau, ich weiß nur einzelne Zeilen von Dir. Falls ich aber halbwegs genau Deine unbewußte Situation getroffen haben sollte, wäre dieses eine Chance für Dich:

Wenn es Dir gelingen sollte, den Hinweis >Meine Angst warnt mich vor der Verletzung meiner Lebensentfaltung, meiner Selbstbestimmung und Ebenbürtigkeit!< in Dein Bewußtsein zu übernehmen (an markanten Punkten in der Wohnung angebrachte Zettel können Dich über Wochen und Monate immer wieder neu erinnern), hast Du eine große Möglichkeit, eine Dir passende Änderung selber zu verursachen. Statt wie gebannt auf das >Urteil< anderer Personen zu starren, beginnst Du wieder überlegt selber zu werten und in logischer Konsequenz Dein Leben neu, nämlich selbstbestimmt und ebenbürtig zu den anderen Menschen zu entfalten. - Und damit verschwindet diese Form der Angst im Laufe der Zeit in dem Maße immer mehr, in dem Du das alte Verhalten durch stetiges Wiederholen eines neuen und selbstbestimmten - und in Ebenbürtigkeit! - ersetzen kannst, also Deine Bedürfnisse erfüllst.

...

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